Vorwort
Jolanda Bucher
Es ist Mittag. Die Nachmittage gehören meiner Arbeit. Die Vorhänge sind geschlossen, durch den Stoff dringt ein gelbliches Licht. Am Boden ist ein weisses Tuch ausgebreitet. Meine Arena. Die Utensilien liegen teilweise bereit.
Die Polaroidkamera steht provozierend auf meinem Tisch, neben meinem Skizzenbuch. Ich ziehe über meinen nackten Körper, den Arbeitsmantel. Alles liegt bereit und wartet darauf, in Bewegung gebracht zu werden. Die verschiedenen Spiegelteile, die Stoffe, das Messer, Neocolor, Acrylfarbe, Polaroidfilme; ich friere meistens am Anfang. Ich steige in mich hinein.
Hannah Villiger war Bildhauerin, ihre Arbeiten Skulpturen und ihr Medium die Fotografie. Anfang der achtziger Jahre beginnt sie mit der Polaroidkamera den eigenen Körper zu erforschen. Im einsamen, nie abbrechenden Dialog mit sich selber, fotografiert sie sich „so nahe, dass das Pola direkt in den Körper saust“. Die ab Polaroid vergrösserten und auf dünne Aluminiumplatten aufgezogenen Farbfotografien entsprechen ihrer Haut: hochsensibel und verletzlich. Während mehr als fünfzehn Jahren hat sie sich durch eine Kameralinse betrachtet, so die eigene Identität ertastet und diese in einem objektivierenden Medium, der Fotografie, als Skulptur reproduziert. „Ein kleines Spiel zwischen dem Ich und dem mir“, notiert sie am 20. September 1989 in ihrem Arbeitsbuch.
Als Hannah Villiger am 12. August 1997 im Alter von nur 45 Jahren stirbt, zählt sie zu den bedeutendsten Schweizer Künstlerinnen ihrer Generation. Mit ihrer Rückbesinnung und Zentrierung auf den eigenen Leib hat sie Pionierarbeit geleistet für die Künstlerinnen der neunziger Jahre, für ein selbstbewusstes Anders-Sehen des Objektes Körper aus weiblicher Sicht.
Das Gesamtwerk von Hannah Villiger umfasst Fotografien, Objekte, Zeichnungen, Druckgrafik, Kleiderentwürfe und über fünfzig Arbeitsbücher. Von ihrer Ausbildung und der Auffassung her Bildhauerin, arbeitet die junge Künstlerin in den siebziger Jahren in verschiedenen künstlerischen Medien und zeigt in Ausstellungen Objekte und Fotografien beziehungsweise Zeichnungen gleichwertig nebeneinander. Ab 1980 wendet sie sich fast ausschliesslich der Fotografie zu, im besonderen der Arbeit mit der Polaroidkamera. Sie arbeitet weiterhin an Objekten und Zeichnungen, stellt diese aber nicht mehr aus, weil die Polaroids „effizienter all das einlösen, was mir wichtig erscheint“.
In den siebziger Jahren entstehen Schwarzweiss- und Farbfotografien, die, meist in Serien angeordnet, Bewegungen im Raum erforschen: brennende Palmblätter, Bewässerungsanlagen, Kondensstreifen, fliegende Bocciakugeln. Diese frühen Bilder sind von einer ausgeprägten Dynamik und leben vom spontanen Festhalten des unmittelbar Gesehenen mit der Kleinbildkamera. Nach 1980 fotografiert Hannah Villiger mit der Polaroidkamera primär sich selbst. Sie umkreist mit der von Hand geführten Kamera ihren meist nackten Körper und hält Bildausschnitte fest, welche Strukturen und Volumen des Leibes neu definieren. Parallel zu den Körperbildern entstehen Hof- und Dachlandschaften, Polaroidaufnahmen vom Ausblick ihrer Wohnungen in Basel und Paris. Hannah Villiger verfährt mit der Stadt wie mit ihrem Körper: hier der Blick auf sich selbst, dort jener von sich weg. Bei aller Wechselhaftigkeit ist ihr Werk erstaunlich homogen und äusserst konsequent. Der chronologische, an der Biografie orientierte Essay der Schweizer Kuratorin und Kritikerin Claudia Spinelli gibt einen allgemeinen Überblick über Leben und Werk von Hannah Villiger und positioniert ihr fotografisches Œuvre im internationalen kunsthistorischen Kontext.
Die 123 x 125 cm grossen fotografischen Fragmente ihres Körpers bezeichnet die Bildhauerin Hannah Villiger als Skulptural, ihre Ausstellungen als Skulpturen. Der in New York lebende Fotografiekritiker und Schriftsteller David Levi Strauss zeichnet nach, wie sie in den siebziger Jahren, ausgehend vom unmittelbar im Alltag Beobachteten und später von ihrem Körper, ein spezifisches Volumen und einen spezifischen Raum mit Fotografie neu erfindet. Griselda Pollock, Professorin für Soziale und Kritische Kunstgeschichte an der Universität in Leeds, blickt auf die Errungenschaften von dreissig Jahren feministischer Kulturtheorie zurück und beschreibt Villigers spezifischen Umgang mit dem eigenen Körper als Material, Medium und Inhalt ihrer Körperlandschaften. Villiger gebraucht die Kamera und die daraus entstehenden Bilder als drittes Auge, um sich – quasi von aussen – selbst zu erkennen und damit den weiblichen Körper in eine räumliche, gesellschaftliche, politische und kunsthistorische Perspektive zu setzen.
1981 erscheint die erste monografische Publikation mit einem einfühlsamen Essay der damals 27jährigen Kunstkritikerin Bice Curiger, der hier wiederabgedruckt wird. Jean-Christophe Ammann kommentiert 1987 in seinem Katalogbeitrag Villigers damals entstandene Arbeiten mit dem programmatischen Titel „Geduld und Einsamkeit“. Bereits 1975 hatte er die junge Bildhauerin zur Biennale des Jeunes in Paris eingeladen und deren künstlerisches Schaffen während der folgenden Jahre mit Engagement verfolgt und gefördert. Das Interesse von Annelie Pohlen, Direktorin des Bonner Kunstvereins, gilt Villigers letzten mehrteiligen Blöcken. Der Körper ist teilweise oder ganz verschwunden, als wolle er sich dem Blick entziehen. Zurück bleiben Polaroids von farbintensiven, sorgfältig arrangierten Kleidungsstücken. Beim Durchblättern dieses Buches – des Abbildungsteils wie des Werkverzeichnisses – sieht man Wiederkehrendes, das zugleich ständiger Verwandlung unterliegt, das im Vertrauten das Unbekannte erkennen lässt, im überraschend Neuen das schon Gewusste. Villigers künstlerische Entwicklung verläuft nicht linear, kein permanentes Fortschreiten also, das ein Verwerfen des Alten beinhaltet. Es ist vielmehr ein Kreisen, mit Geduld und Einsamkeit, um immer wieder dasselbe Thema: die Skulptur.