„Ich werde selbst zum Meissel“

Hannah Villigers skulpturale Fotografie

David Levi Strauss

Die Haut brennt und beisst, die Gedanken sind unruhig und wollen etwas zum Fressen, die Augen wollen sehen, denken; sie fordern und bedrängen mich ... der ganze Körper ist überpräsent. Es braucht ..., um dieses Gefühl zu löschen, zu beruhigen.

Hannah Villiger, „Zu meinem Buch Neid“

Dieses schattenlose Licht. Einfach um weg zu sein. ... 
Ein einzelnes Bein erscheint. Von oben gesehen. Du trennst die Glieder und legst sie nebeneinander. Es ist, wie du halbwegs vermutet hast. ... Du lässt die Stücke dort liegen und öffnest deine Augen, um sie sitzend vor dir zu finden. Alles totenstill.

Samuel Beckett, „Heard in the Dark 2“

Für jeden von uns nimmt der Raum bei unserem eigenen Auge seinen Anfang und weitet sich von dort aus dann bis ins Unendliche; er beeindruckt uns in seiner Gegenwärtigkeit mehr oder weniger intensiv und geht unmittelbar in unsere Erinnerung ein, um sich darin weiter zu verändern. Von allen erdenklichen Ausdrucksmitteln fixiert allein die Fotografie einen bestimmten Augenblick. Wir beschäftigen uns mit Dingen, die wieder verschwinden und die man, wenn sie erst verschwunden sind, unmöglich wieder zum Leben erwecken kann.

Henri Cartier-Bresson, Der entscheidende Augenblick

Handelt es sich nicht vielmehr um den Ort, wo man sich zu Ende verschwendet?

Samuel Beckett, Der Namenlose

In den fünfundzwanzig Jahren, die Hannah Villiger für ihre Arbeit zur Verfügung hatte, bestand der Fortschritt ihrer Kunst darin, ihre Mittel zu reduzieren und zu vereinfachen und gleichzeitig das, was sie damit tun und sagen konnte, auszubauen und komplexer zu machen: völlige Freiheit innerhalb strenger Grenzen. Am Ende lief es auf sie selbst hinaus, die sich allein in einem Raum mit einer Kamera fotografierte, das Innere (ihren eigenen, eilig dahinschwindenden Körper) und das Äussere (die Pariser Stadtlandschaft durchs offene Fenster), um ein vollständiges, wiewohl kondensiertes Bild der Welt zu gestalten. Der Katalog der ersten posthumen Ausstellung von Villigers Werk 1998 im Kunstmuseum Luzern beginnt mit dem Foto Atelier Paris, das ein kleines, karges Zimmer mit weissen Wänden zeigt, welches nur eine verstellbare Stehlampe mit langem Kabel sowie eine am Nagel hängende Reissschiene enthält. Was fehlt, ist allein die Künstlerin und ihre Kamera, ihr idealer (und beneideter) Begleiter in dieser beengten Umgebung.

Seit ihren Anfängen als Bildhauerin strebte Villiger immer nach den ökonomischsten Mitteln, um ihre skulpturalen Ideen umzusetzen, und zunehmend war es die Fotografie, die dieses Bedürfnis erfüllte. Sie benutzte sie zur Dokumentation ihrer dreidimensionalen Skulpturen wie ihrer Aktionen und (neben der Zeichnung) zur Ausarbeitung und dem bildlichen Nachdenken über skulpturale Probleme. Ihre beiden frühesten Künstlerbücher, die in Rom entstanden, zeigen, dass diese beiden Einsatzweisen der Fotografie schon von Anfang an in ihrem Werk wirksam waren. Objekte 1975–76 besteht aus Schwarzweissbildern kleiner, freistehender Skulpturen, wohingegen Sky 1975–77 ein rein fotografisches Buch ist, das Bilder von Palmwedeln, Bällen, Zeppelinen, Hubschraubern, Flugzeugen und Vögeln vor klarem Himmel zeigt. Das Foto eines durch die Luft fallen- den Palmwedels mit dem Blick auf die Küste von Amalfi im Hintergrund (S. 14–15) thematisiert Massstäblichkeit und Tiefenschärfe. Und das Foto vom Foto eines Palm wedels, der auf einem Tisch neben einer im Glas stehenden Pflanze liegt (S. 16), liefert wenigstens drei Abstraktions ebenen. Die Abfolge der Bilder in Sky ist sehr willkürlich und wiederum fotografisch.

Villiger erkannte die Fotografie als besonders effizientes Mittel zur Untersuchung entropischer Vorgänge: Kondensstreifen von Düsenjets, aus einer Bewässerungskanone spritzendes Wasser, das Wenden von Heu auf einem Feld, das Auflodern und Auslöschen von Flammen. Ihre Fotos brennender Palmwedel und zusammenprallender Bocciakugeln sind konzeptuelle Bilder, aber sie vermeiden die antiästhetische ausdruckslose Pose der konzeptuellen Fotografie der späten sechziger und frühen siebziger Jahre von Künstlern wie Ed Ruscha (Various Small Fires, 1964), Douglas Huebler (Duration Piece #7, 1969) und Alice Aycock (Cloud Piece, 1971). Insbesondere Villigers brennende Palmwedel zeigen eine Üppigkeit, die sie, wie die Fotoarbeiten von Robert Smithson (ich denke hier insbesondere an die Mirror Displacements), eher zwischen konzeptuelle und expressionistische Verfahren stellt. So wie Smithson hatte auch Villiger kein Interesse an der fotografischen „Technik“ – zu lernen, wie man gute Negative oder Abzüge anfertigt – und wurde auf dem Weg über die Bildhauerei in eine fotografische Fragestellung, die mit den Konventionen der Kunstfotografie nichts zu tun hatte, hineingezogen. Ähnlich wie Smithson behielt sie ihr ganzes Leben über eine gewisse Ambivalenz der Kamera gegenüber bei, die manchmal schon an Angst oder Neid grenzte. „Eine Kamera hat schon etwas Abscheuliches an sich“, schrieb Smithson, „da sie die Macht hat, viele Welten zu erfinden.

Als Künstler, der sich seit vielen Jahren in der Wildnis der mechanischen Reproduktion verlaufen hat, weiss ich nicht, mit welcher Welt ich beginnen soll. Ich habe gesehen, wie die Fotografie Künstlerkollegen zur Raserei gebracht hat.“1

Villiger zeigte in ihren Ausstellungen Objekte (Skulpturen) und Bilder (Fotos, Zeichnungen) zusammen. Anfang 1980 fotografierte sie zwei ihrer Skulpturen – aneinandergereihte gebogene Dachlatten ( S. 75) und eine grob geschnittene Spirale aus Plexiglas (S. 76) – und stellte fest, dass ihre Fotos dieser Objekte überzeugender (und, ironischerweise, auch in skulpturaler Hinsicht gelungener) als die Objekte selbst waren. Das war ein Wendepunkt, der eine enorm produktive Periode in ihrem Werk einleitete. Exakt zu diesem Zeitpunkt ihres künstlerischen Durchbruchs, sie war damals 29 Jahre alt, erfuhr Villiger, dass sie an Tuberkulose erkrankt war, und kam ins Krankenhaus. Sofort wurde ihr Krankenzimmer ihr neues Atelier, mit Zeichnungen an den Wänden und Skulpturen auf dem Boden. Eine Reihe von Polaroids, die in ihren späteren Blöcken eine prominente Stellung einnehmen sollten, entstand in diesem Kranken zimmer. Schwindsucht und Beengtheit traten als die treibenden Kräfte ihres reifen Werks zutage.

Als sie aus dem Krankenhaus entlassen wurde, schrieb Villiger auf die erste Seite eines Arbeitsbuchs: „viel grenzenloser“. Um sich die Ausdrucksfreiheit, nach der sie sich sehnte, zu erhalten, und um ästhetisch „viel grenzenloser“ zu werden, musste sie die Grenzen nahe heranholen und sich dann in die verbleibende Einfriedung begeben. Im September 1980 kam sie erneut ins Krankenhaus. Nach diesem Spitalaufenthalt machte sie ein Foto vom offenen Fenster in ihrem Atelier und schrieb in ihr Skizzenbuch: „Ich werde selbst zum Meissel.“ Der Einsatz hatte sich erhöht, und ab diesem Punkt nahm ihr Werk eine neue, wilde Intensität an. Im November und Dezember 1980 stellte sie erstmals SX70-Polaroids aus, die sie über ein Internegativ auf Farbnegativpapier vergrössert und auf Aluminiumtafeln von einem Quadratmeter Grösse aufgezogen hatte. Die für diese Ausstellung ausgewählten Bilder waren sehr viel offener autobiografisch als alles, was sie zuvor gezeigt hatte: ein Selbstporträt, auf dem sich ihre blauen Augen in einem Krankenhaustisch spiegeln (S. 30), eine Nahaufnahme vom Décolleté ihrer Geliebten (S. 81), ein Gesicht mit Sommersprossen, das Fenster ihrer Wohnung (S. 70), eine leuchtend grüne Pflanze (S. 73), Villiger Kinn an Kinn mit ihrer Geliebten (S. 71), Tennis bei künstlichem Licht, ein weiteres Selbstporträt, auf dem nur ihr Kinn und die Hand in ihrer Jacke zu sehen sind, und eine Nahaufnahme roter Lippen. Einige Monate später nahm sie an einer Gruppenausstellung in der Kunsthalle Basel teil und machte einen kleinen Katalog (mit einer Einführung von Bice Curiger, S. 74), der einige ihrer früheren entropischen Schwarzweissaufnahmen sowie neuere Farbpolaroids enthielt und ein kohärentes und präzises bildliches Statement zu ihren sich abzeichnenden Anliegen bildete. Wiederum ist die Bildfolge pointiert und liefert ein visuelles, räumliches Gegenstück zu einer emotionalen Bewegung.

Zur selben Zeit fing Villiger damit an, ungerahmte Aluminiumtafeln von einem Quadratmeter Grösse zu Gitterwerken oder „Blöcken“, die aus zwei bis zwanzig Tafeln bestehen konnten, zusammenzusetzen, in welchen die einzelnen Bilder als Zeichen einer Syntax fungieren. Die Gitterstruktur machte die Bilder ausserdem etwas „kühler“ und erlaubte es Villigers skulpturalen Intentionen – den Raum zwischen den Bildern und dem Publikum zu bearbeiten –, sich auf andere Art und Weise zu realisieren. Jean-Christophe Ammann sagte ein mal, Villiger habe die Fotografie verwendet, „um diesem räumlichen Empfinden Form und Inhalt eines körperlichen Empfindens zu verleihen“.2 Ihre Absicht war, diese imposanten Blöcke aus Körperbildern auf direkte, instinktive Weise für die Betrachtenden erfahrbar zu machen – beim Ansehen sollten sie die wechselnden Ausrichtungen und Verdichtungen in ihren eigenen Körpern spüren. Diese Wirkung beruht nicht nur auf der Darstellung von Villigers Körper in diesen Werken, sondern auch auf dem materiellen Gewicht und Arrangement der Bilder. Manche Leute haben Villigers Werk mit jenem John Coplans’ verglichen, die Beziehung aber ist nur oberflächlicher Natur. Coplans’ Werk bezieht sich auf die Tradition des fotografischen Akts in einer Weise, wie Villigers das nicht tut. Villiger fertigt keine Abstraktionen der menschlichen Figur an, sondern nimmt skulpturale Formen auf, die sie mit ihrem eigenen Körper geschaffen hat. Ihre Methode zwingt sie dazu, sich auf die Extremitäten zu konzentrieren, und die grelle Beleuchtung, die sie einsetzt, trägt zur Verflachung der Formen bei, legt wenig Gewicht auf die Einheit des Körpers und schafft einen Index von Fragmenten. Diese Fragmente erscheinen in einem gravitationsfreien Raum, der der üblichen Ausrichtung des menschlichen Körpers nach oben und unten keine Beachtung schenkt. Roberta Smith von der New York Times schrieb in einer Rezension von Villigers Ausstellung in der Zabriskie Gallery in New York 1990, sie „spiele Frank Stella mit Mr. Coplans’ Henry Moore“.3 In seinem Buch Working Space (1986) argumentiert Stella, dass „grosse Kunst nie uninteressiert ist an der Erschaffung von fruchtbarem Bildraum, des Trägers von Bewegung und Begrenzung“.4 Im Vorwort zu ihrem bahnbrechenden Buch Six Years: The Dematerialization of the Art Object, schrieb Lucy Lippard: „Jemand, der fotografiert, geometrisiert in weiterem Sinne das Leben.“5 Da die organische Form, die in Villigers Werk „geometrisiert“ wird, ihr eigener Körper ist, ist die instinktive Reaktion isomorph: Statt die Beziehung Künstlerin : Modell von aussen zu betrachten, werden wir an Villigers vielge staltigen Erkundungen aller möglicher Konfigurationen und Arrangements ihres eigenen Körpers innerhalb der Grenzen des Quadrats aktiv beteiligt. Wer danach sucht, findet in den Bildern Hinweise auf Villigers Krankheit – die knotigen Schwellungen und den roten Ausschlag und später die klaren Zeichen tuberkulöser Auszehrung –, aber die Bilder sind vor allem verblüffend zurückhaltend, unpersönlich sogar. Wenn das Narzissmus ist, ist er höchst sonderbar. Tatsächlich erscheinen diese Bilder, als seien sie von jemandem gemacht, der sich von seinem Körper derart entfremdet hat, dass er ihn konsequent als Objekt betrachten konnte. 1985 produzierte die Kunsthalle Basel ein Buch Villigers mit dem Titel Neid. „Während der Arbeit“, schrieb Villiger, „hatte ich zwei personenartige Kräfte in mir; die neidische und die beneidete. Die neidische war neidisch auf das fotografierende Ich. Sie beneidete seine Konzentration, seinen Willen. Ebenso bezeichnet das Wort mein Neidgefühl auf das Eigenleben des Werkes.“ Da gab es das Leben der Person, die das Werk schuf; da gab es das Leben der im Werk abgebildeten Person; und da gab es ein drittes Element: das Leben des Werks an sich. Die beiden ersteren beneideten die Klarheit, die Begrenzung und die Langlebigkeit des letzteren. Die Funktion eines Meissels ist es, das Nichtzugehörige wegzuhauen, und für Hannah Villiger hiess das, zu den Formen vorzustossen, die sie, möglichst ohne Eingriffe, mit ihrem eigenen nackten Körper schaffen konnte. Letzten Endes wurde selbst ihr Körper „weggehauen“ und liess nur die Bilder übrig. Ein Bild in Neid zeigt ihre linke, weissbemalte Hand vor weissem Hintergrund. Die Hand ist wie um einen Meissel geschlossen. Wir wissen, dass die rechte Hand der Künstlerin anstelle eines Hammers die Kamera gehalten haben muss, aber selbst dann noch trifft sie ins Schwarze.

Übersetzung: Miriam Wiesel


Fussnoten

  1. Smithson, Robert, „Art through the Camera’s Eye“, 
    in: Robert Smithson Unearthed: Drawings, Collages, Writings, Ed. Eugenie Tsai,
    Columbia University Press, New York 1991, S. 88. ↩︎
  2. Ammann, Jean-Christophe,
    in: 4.1: Jean Pfaff, Heiner Richner, Jürg Stäuble, Hannah Villiger (Ausst.-Kat.),
    hg. von Heiny Widmer, Aargauer Kunsthaus Aarau, Aarau 1980, S. 53. ↩︎
  3. Smith, Roberta, „Hannah Villiger“,
    in: The New York Times, 19. Januar 1990. ↩︎
  4. Stella, Frank, Working Space, 
    Harvard University Press, Cambridge, MA, 1986, S. 99. ↩︎
  5. Lippard, Lucy R., Six Years: The Dematerialization of the Art Object from 1966 to 1972, 
    Praeger Publishers, New York 1973, S. 7. ↩︎