Geduld und Einsamkeit

Jean-Christophe Ammann

Ein Raum, zwei sich gegenüberstehende Wände mit dem einen und dem anderen Teil des Werks von Hannah Villiger, das den Titel Skulptur (1983–1987, S. 156–159) trägt. Die Trennung in zwei Teile ist einsichtig. Kälte und Wärme stehen sich gegenüber: Winteraufnahmen vom Balkon ihrer früheren Wohnung am St. Johanns-Platz in Basel und Aufnahmen von Teilen des eigenen Körpers in blassen, rötlichweissen Tönen. Aufnahmen, die mit der Polaroidkamera gemacht und anschliessend auf 125 x 123 cm vergrössert wurden, die jedoch von Beginn an für das Grossformat konzipiert waren. Am Anfang stehen Geduld und Einsamkeit. Geduld, mit sich und dem Gegenstand der Wahrnehmung umzugehen: Wahrnehmung, die selbst zum Gegenstand der Wahrnehmung wird, die den Gegenstand bis zur schieren Belanglosigkeit auflöst, weil die Entleerung des Blicks mit dessen Konsistenz identisch wird.
Einsamkeit – das ist die Heimatlosigkeit der Sinne in Zeit und Raum. Plötzlich, so scheint es, wird der Gegenstand trotz seiner Auflösung übermächtig, weil er sich von sich selbst gelöst hat, weil er nur noch sinnentleerte Wahrnehmung ist. Genau dann erschrickt man, genau dann wird die Arbeit von Hannah Villiger unerträglich, schmerzt, und eine Art Verzweiflung macht sich in einem breit.

Weshalb Skulptur? Die raumbezogene Form der Präsentation gibt einen Hinweis darauf: die unterkühlte, präzis-symmetrische, einander gegenübergeordnete Darstellung der Fotos, aber auch der Umstand, dass diese Werke, wie alle anderen Arbeiten von Hannah Villiger, eine relativ grosse Betrachtungsdistanz und damit auch den entsprechenden Raum beanspruchen. Es sind Werke, die man nicht aus der Nähe anschaut, die man zwar nicht umschreiten kann, wie dies bei einer Skulptur üblich ist, die einen aber umgeben und die allein schon durch die Trennung in zwei symmetrische Teile, wie dies hier der Fall ist, eine kontinuierliche räumliche Aufmerksamkeit verlangen.

Bis in die frühen achtziger Jahre bezeichnete Hannah Villiger ihre Fotos als Arbeit. Schwarzweissfotografie, Farbfotografie; danach als Skulptur, wohl der räumlichen Interaktion wegen.

– Vielleicht ist es auch gut zu wissen, dass sie eine Ausbildung als Bildhauerin genossen hat und bis in die Mitte der siebziger Jahre als Bildhauerin tätig war.

Für Hannah Villiger trifft zu, was Cesare Pavese über Gertrude Stein geschrieben hat, wenn er „von der körperlichen Loslösung von der Wirklichkeit, aus der sie ihre Inspiration schöpft“, spricht.


Dieser Artikel erschien erstmals in: Stiller Nachmittag (Ausst.-Kat.), hg. von Toni Stooss, Kunsthaus Zürich, Zürich 1987, S. 183.