Zu meinem Buch Neid

Hannah Villiger

Das Buch besteht aus drei Elementen: die hellen Seiten und der weisse Deckel, die eingeklebten farbigen Offsetbilder, die schwarze Schrift.

Die hellen, fliessblattartigen Seiten und der weisse, harte Deckel bilden eine Einheit. Sie sind der Raum. Die farbigen Bilder sind die Gegenstände in diesem Raum. Die schwarze Schrift ist Träger der Informationen.

Das Buch hat ein Format von 24,5 x 18,5 cm. Die Bilder sind 11,2 x 11 cm gross. Jedes Buch beinhaltet 42 Bilder und 108 Seiten. Es gibt 600 numerierte Exemplare.

Zuerst zum Titel des Buches, obwohl er zuletzt dazukam – „Neid“. Dieses Wort besitzt eine provokative Schrillheit, trotz der Ruhe der vier schwarzen Buchstaben. Das Wort bezeichnet einen Dialog in mir. Während der Arbeit hatte ich zwei personenartige Kräfte in mir; die neidische und die beneidete. Die neidische war neidisch auf das fotografierende Ich. Sie beneidete seine Konzentration, seinen Willen. Ebenso bezeichnet das Wort mein Neidgefühl auf das Eigenleben des Werkes. Ein Buch hat rechte und linke Seiten. Wie bei einem Buch üblich, steht der Titel auf der zweiten rechten Seite. Die nächste Doppelseite ist fast leer. Auf der linken Seite ist das Adjektiv „skulptural“ gedruckt.

Die Bilder an den Wänden des Ausstellungsraumes, in Verbindung mit der Architektur sind „die Skulptur“. Die Bilder, auf den hellen Seiten des Buches eingeklebt, in Verbindung mit den leeren rechten Seiten, nenne ich „skulptural“. Die Bilder in der Ausstellung und im Buch haben dieselben Vorlagen. In der Ausstellung sind es fotografische Vergrösserungen – je 125 x 123 cm, hochglanz, auf 1 mm dicke Aluminiumtafeln aufgezogen –, im Buch Offsetdrucke von denselben Polaroids.

Auf der dritten Doppelseite begegne ich einem Bild. Nur an seiner oberen Bildkante ist es in die linke Seite geklebt. Der Rest des Bildes liegt lose auf. Ich spüre seinen papierstarken Körper. Es erinnert an die auf Aluminiumtafeln aufgezogenen Vergrösserungen in meinen Ausstellungen. Es ist randlos, dem Meisselschlag eines Bildhauers vergleichbar. Es hat eine leicht glänzende Oberfläche. Ich blättere weiter. Jeweils ein farbiges Bild auf einer Doppelseite. Das Bild ist immer auf der linken Seite eingeklebt. Üblicherweise würde man ein einzelnes Bild bei einer Doppelseite rechts erwarten. Durch das Nichterfüllen dieser Erwartung steigert sich die Präsenz der leeren Seite, und ihr Raum wird überdeutlich spürbar; er fliesst über auf die linke Seite, wo das ebenso in seiner Präsenz gesteigerte Bild in ihm ruht. Ich blättere weiter. Ich treffe auf eine unberührte Doppelseite. Eigentlich ist es eine leere linke Seite. Noch genauer weiss ich, dass jedes Buch zwei leere linke Seiten hat. Als ich die Seitenzahl bestimmte, dachte ich,

  • dass ein Rhythmus, eine Klammer zur Betonung von bestimmten Bildern, eine Pause, ein Satzzeichen die Bilder gliedern sollte;
  • dass diese zwei Seiten abwesende Bilder sind;
  • dass sie das schattenhafte Erscheinen der Rückseiten der eingeklebten Bilder unterbrechen, die durch die leichte Transparenz des Papiers auf der vorliegenden Seite durchscheinen;
  • dass der helle Raum zu gering ist, wenn alle Bilder unmittelbar aufeinander folgten. Ich wollte eine gleichwertige Präsenz von Bildern und Umfeld.

Ich klebte die Bilder selbst ein, aber ihre Reihenfolge änderte sich. Ich versuchte, ihr das Wort zu geben. Das Leporello bricht die Aufstapelung der Bilder und wühlt die Ruhe der Einzelbilder auf. Am Schluss des Bildteiles befindet sich eine Doppelseite. Auf der rechten Seite sind die Numerierung des Buches und Informationen zum Bildteil gedruckt. Danach folgt eine leere Doppelseite, die den Bildteil vom Anhang trennt.

Im Anhang stehen Informationen zu den Bildern der Ausstellung, ein Text von J.-Ch. Ammann, ein Dank und das Copyright, wiederum wie üblich auf der rechten Seite.

Ich fotografiere mich selbst.

Ich bin mein nächster Partner und der mir naheliegendste Gegenstand.

Ich horche in meiner Polaroidkamera an meinem nackten, kahlen Körper entlang, um ihn herum, in ihn hinein, durch ihn hindurch. Dabei entstehen Bilder, die ich unmittelbar korrigieren kann.

Die Polaroidkamera ist einfach in ihrer Handhabung. Sie lässt mich direkt zu mir kommen.

Die Fotografie ermöglicht es, in einem kurzen Augenblick die Unendlichkeit zu fassen.

Ich fotografiere, weil ich Gegenstände wahrnehme.

Das Licht gebrauche ich intuitiv.

Wie beginne ich die Arbeit?

Die Haut brennt und beisst, die Gedanken sind unruhig und wollen etwas zum Fressen, die Augen wollen sehen, denken; sie fordern und bedrängen mich ... der ganze Körper ist überpräsent. Es braucht ..., um dieses Gefühl zu löschen, zu beruhigen.

Aber auch immer eine bildnerische Idee, eine analytische Überlegung, z. B. 4 Flächen: Bein, Fuss, Arm, Untergrund und 3 Lichtquellen: Sonne, Blitz, Kunstlicht ... es sind bewusste Bilder.

Die grösste Distanz zwischen Kamera und Körperteil ist die ausgestreckte Länge meines Armes bis zu meinen Zehen. Ich löse die Kamera immer selbst aus, manchmal ohne die Kontrolle des Auges. Ich drehe die Kamera um 90, 180, 270 Grad. Ich stelle mich – wörtlich – auf den Kopf. Oft drehe ich die belichteten Polaroids an der Wand, bis sie ihr eigenes Unten finden.

Ich verwende alle mir bekannten Mittel zur Auflösung des üblichen Raumes und dessen Gesetz der Schwerkraft. Mein Ziel ist nicht ein Abbild des Gegebenen, sondern ein autonomes Werk. Dafür setze ich Mittel der Malerei, der Bildhauerei, der Performance und der Fotografie ein. Durch die dauernde Wiederholung wird mein Körper „Ein Körper“.

Und sogar dieser abstrakt gewordene „Ein Körper“ wird vergessen – nur der reine Klang entblösst. Vielleicht sind in den Bildern Augen und Geschlecht deshalb nie abgebildet.

Durch Vertauschen der äusseren beiden Buchstaben des Wortes Neid, entsteht Dein.


Dieser Artikel erschien erstmals in: Jahresbericht des Basler Kunstvereins, Kunsthalle Basel, Basel 1986, S. 24–25.